Viator

von Florian Stegmaier

Ein Künstlerbuch, das mit hochästhetischen Anblicken aufwartet: Hama Lohrmann versammelt in vorliegendem Band Fotografien, die abschließende Zustände künstlerischer Arbeiten dokumentieren, die sich an verschiedensten Orten vollzogen haben. Verschieden sowohl hinsichtlich Topografie und klimatischen Bedingungen aber auch hinsichtlich des jeweiligen sozialen und kulturellen Milieus.

Island und Marokko, Südindien und die schottischen Highlands, dann wieder die Lechtaler Alpen. An all diesen Orten – und es wären noch mehr zu nennen – ist Hama Lohrmann tätig unterwegs. Nicht als Tourist, auch nicht als Zaungast. Es geht ihm vielmehr darum, sich intensiv auf die spezifische Ausstrahlung, auf die charakteristische Stimmung einer Landschaft einzulassen. Wird ein solches Erleben dann zur inneren Resonanz, reagiert er darauf, indem er mit seinen künstlerischen Mitteln Spuren in der Landschaft hinterlässt. Spuren, die jedoch keine äußerlichen Eingriffe darstellen, sondern den Orten wesensgemäß sind und ihre individuellen Qualitäten hervorheben und intensivieren.

Hierfür stets vor Ort gefundene Materialien zu verwenden, ist nicht allein logistischen Umständen geschuldet. Es ist vor allem Ausdruck der besonderen Haltung, die Hama Lohrmanns künstlerischen Umgang mit der Natur auszeichnet. Mit Respekt und Demut schreibt er seine Zeichen in sie ein, wobei er diese Arbeit als einen Zustand „gedankenloser Aufmerksamkeit“ beschreibt,die sich im Tun vollzieht.

Bezeichnend ist auch seine Art der Annäherung. Hama Lohrmann erläuft Landschaften. Er schafft „Laufwerke“, in denen er durch seine Fortbewegung Linien in der Landschaft zieht. Sichtbar werden diese Linien zwar erst auf dem zugehörigen Kartenmaterial, das das geschaffene Laufwerk veranschaulicht. Die eigentliche Spur, die Hama Lohrmann mit seinen Laufwerken in der Natur schafft, wird aber noch auf einer anderen Ebene manifest und bedeutsam.

Ein Mensch, der eine Landschaft mit wachem, offenem Bewusstsein durchmisst, nimmt sinnliche Eindrücke auf, die auf ihn physisch wie seelisch einwirken, die ihm einen neuen Gehalt an Erfahrungen und Erlebnissen zukommen lassen. Dabei kann es zu einem intensiven Austausch, zu einer regelrechten Wesensbegegnung zwischen Natur und Mensch kommen. Zu einer aktiven Durchdringung, einer Ergriffenheit, die beide Seiten prägend verändert. Insofern ist es eine dankbare, geradezu liebevolle Geste der Zuwendung, wenn Hama Lohrmann aus dem Reichtum eines solchen inneren Erlebens etwas in die Natur zurückspiegelt, indem er dort künstlerische Prozesse in Gang setzt, Zeichen und Spuren sichtbar werden lässt.

Hama Lohrmanns Arbeiten regen einen Dialog zwischen Mensch und Natur an. Einen Dialog, der von Ambivalenzen geprägt ist, der aber auch ein fruchtbares Geben und Nehmen hat. Ambivalent ist das Aufscheinen menschlichen Zutuns innerhalb der Natur schon deshalb, weil sich hier unterschiedliche Zeithorizonte berühren: die Größe und Weite einer von Ewigkeitsanspruch umwehten Naturkulisse und die Flüchtigkeit menschlicher Spur darin. Andererseits zeigen die Arbeiten aber auf, dass der Mensch, indem er eine Landschaft möglichst umfänglich wahrnimmt, dazu fähig wird, die Natur erst ins Bewusstsein zu bringen, sie durch einen solchen Bewusstseinsakt - der als künstlerische, schöpferische Tat zu sehen ist - erst vom bloßen unreflektierten Sein, ins konkrete Da-Sein zu heben. So wird die künstlerische Spur, das gesetzte Zeichen zum gemeinsamen Nenner zwischen Mensch und Natur.

Bei aller empfundenen Naturnähe, die in der Kunst von Hama Lohrmann entgegentritt, ist seine Arbeit auch von einem augenfällig hohen Anspruch an formale Ästhetik durchdrungen. Die ästhetische Empfindsamkeit des Betrachters anzusprechen sieht er als Chance, zur Erkenntnisfähigkeit des Menschen beizutragen. Erkenntnis, die sich aber weniger an Daten und Fakten festmacht, vielmehr qualitativ zu beschreiben ist. Der künstlerische Umgang, den Hama Lohrmann den jeweiligen Orten angedeihen lässt und der vom Betrachter auf dem Wege der Fotografie nachvollzogen werden kann, führt den äußerlich gegebenen, geografisch definierten Ort über in einen inneren Zustand. Die sinnlich wahrnehmbare Topografie wird zur seelischen Innenraum-Erfahrung, zu einer inneren Landschaft, die eben nicht mehr mit geodätischen Koordinaten oder Klimadaten zu fassen ist, sondern sich als konkrete Erlebnisqualität erfahren lässt, die in lebendigem, prozessualem Fluss befindlich ist, die den Betrachter formt, aber auch von ihm geformt werden kann.

Somit können die hier versammelten Fotografien als Katalysatoren dienen, um innere Prozesse auszulösen, letztlich das Wahrnehmen und Empfinden des Betrachters zu den eigentlichen Schauplätzen der Kunst werden zu lassen.

Florian Stegmaier, Städtische Galerie im Kornhaus, Kirchheim unter Teck Veröffentlicht in: Hama Lohrmann, Viator, 2012